„Ende der Zukunft“ – Gewinnertext des Kurzgeschichtenwettbewerbs

„Ist schon wieder wie im Film hier. Wenn das so weitergeht, müssen wir wieder raus aus der Stadt.“

Jakob seufzte und wischte die Benachrichtigung mit der Hand aus seinem Blickfeld. In der oberen linken Ecke blinkte das Batteriezeichen rot. Er setzte die AR-Brille ab und legte sie auf das Ladegerät.

Sein Blick wanderte zum Fenster. Der Sturm wütete wie jeden anderen Tag auch. Am Horizont hinter den grauen Gebäuden der Stadt kam das nächste Gewitter, verschlang die Wolkenkratzer als wären sie Luft, randalierte, tötete. In den letzten Jahren wurden viele Arbeitsbereiche auf künstliche Intelligenzen umgelagert. Der Mensch hätte vielleicht sogar die Kurve im Klimawandel bekommen können, aber den Strombedarf dieser Intelligenzen haben alle unterschätzt. Sie jetzt abzuschalten, würde eine riesige wirtschaftliche Katastrophe bedeuten. Außerdem war es sowieso zu spät. Die Kipppunkte waren bereits erreicht. Und so geschah nun das, was geschehen musste. Die Natur wird den Menschen los.

Jakob schloss die Augen und warf den Kopf in den Nacken. Wie gern er doch rausgehen würde. Mit Niklas zusammen skaten. Von seinem besten Freund hat er seit der letzten Flut nichts mehr gehört.

Voller Schmerz versuchte er, den Gedanken an ihn zur Seite zu schieben. Eine viertel Drehung nach links und er saß an seinem Schreibtisch. Die nächste Homeschoolingkonferenz im Metaverse beginnt in 15 Minuten. Hoffentlich ist die Brille bis dahin wieder aufgeladen. Jakob öffnete den Browser auf seinem Laptop und scrollte durch die Nachrichten.

Eilmeldung: Hacker in System von deutschem Atomkraftwerk eingedrungen

Studie: Aufgrund von AI verlieren tausende Menschen ihren Job

Internet of Things: Update verschlechtert Eingabeerkennung, etwa sechzig Millionen Haushalte weltweit betroffen

Jakob wollte davon nichts hören. Er schloss den Browser wieder, öffnete Spotify und klickte auf „Play“. Aus den Lautsprechern in seinem Zimmer ertönte Peter Fox. „Alle mal’n schwarz, ich seh‘ die Zukunft pink“, dieses Lied kannte er noch von früher. Damals hatte er noch Hoffnungen, da könnte etwas dran sein. Doch mittlerweile war die Menschheit verloren. Er überprüfte den Ladestand seiner Brille. Fünfundzwanzig Prozent, das sollte reichen. Er setzte sie auf und sah die Benachrichtigung in der unteren rechten Ecke seines Blickfeldes.

Vor 7 Minuten: „Leute, habt ihr alle das Sicherheitsupdate von letzter Woche gemacht? Total wichtig, gibt ne riesengroße Sicherheitslücke im Code! Irgendwer hat das Update nicht auf seinen Geräten installiert und eine KI hat sich ins Schulsystem eingehackt!“ Jakob lief ein kalter Schauer über den Rücken. Verzweifelt kramte er in seinem Gedächtnis, doch schon wenige Momente später war er sich sicher. In den letzten Tagen hatte er kein Update gemacht.

Hektisch bewegte er die Arme vor seinen Augen, tippte in die Luft, wählte das Update aus und installierte es auf der Software seiner Brille. Doch es war zu spät. Jetzt ist es passiert. Und er war schuld. Als er auf seinem Laptop das Schulnetzwerk öffnete, kam eine Fehlermeldung. Der Server wurde übernommen.

Die AI weiß doch, was sie tut“, klang es währenddessen aus den Lautsprechern. Ping. Die erste Nachricht von dem übernommenen Server traf ein. Wenige Sekunden später die nächste. Nach etwa einer Minute war die ganze Plattform voll von den Nachrichten. Offensichtlich wurde die künstliche Intelligenz, die die Nachrichten schrieb, mit Hassrede aus dem Internet gefüttert, sodass nichts als antisemitische und rassistische Parolen verschickt wurden. Und alles wegen ihm.

Wenn du mich fragst, wird alles gut, mein Kind“. Jakob stand auf, ließ sich mit dem Rücken gegen die Wand fallen und sackte auf dem Boden zusammen. Wut, Frust und Angst übernahmen ihn. Eine Welle von Hass machte sich breit. „Mach dein Ding, aber such kein’n Sinn“. Er nahm die AR-Brille ab und schleuderte sie mit aller Kraft, die er aufwenden konnte, durch den Raum. „Und was nicht da ist, musst du erfinden“. Das Glas zersprang an der Wand über seinem Bett, der Akku ging in Flammen auf. Das konnte doch nicht wahr sein. „Weil wir die Zukunft sind, seh‘ ich die Zukunft pink“. Jakob fühlte sich wie in einem schlechten Horrorfilm. Nein, das passiert gerade nicht.

Er schloss die Augen und versuchte, sich einzureden, das wäre nicht real. Vor seinem inneren Auge sah er sich mit Niklas. Sie fuhren auf ihren Skateboards die Straße herunter. Er sah keine autonom fahrenden Autos, die ununterbrochen Unfälle verursachten. Die Mutter mit dem Kinderwagen, die am Straßenrand entlangging, musste nicht um ihren Job bangen. Sie mussten beim Skaten keine Angst davor haben, von einer Sturmflut überrascht zu werden. Das war lange her. Und er musste sich eingestehen, dass es nie wieder so sein wird. Jakob öffnete die Augen. Als er sah, was passiert ist, lief es ihm eiskalt den Rücken hinunter. Die Flamme hat seine Bettdecke in Brand gesteckt.

Sofort sprang er auf und rannte aus seinem Zimmer. Im Flur griff er nach einem Putzeimer und versuchte, ihn im Bad mit Wasser zu füllen. Doch der automatische Wasserhahn sprang nicht an. Wie war das gerade in den Nachrichten? Update verschlechtert Eingabeerkennung. Panik stieg in Jakob auf. Er rannte die Treppe herunter in die Küche und versuchte es dort noch einmal. Einen Moment dachte er, es würde wieder nicht funktionieren. Er fühlte sich, als würde ihm jemand die Kehle zuschnüren. Doch dann sah er, wie das Wasser in den Eimer lief. Erst war der Strahl schwach, dann wurde er immer stärker. Jakob griff nach dem halbvollen Eimer und rannte zurück nach oben. Als er in sein Zimmer kam, stand bereits seine halbe Bettdecke in Flammen. Hektisch versuchte er, das Feuer mit dem Wasser zu löschen, doch es reichte nicht aus. Dort, wo das Wasser den Stoff berührt hatte, war die Bettdecke schwarz und verkohlt. Die Flammen erreichten die Wand. Ruß und Asche kletterten bis zur Decke hoch. Jakob rannte nach unten und ließ neues Wasser in den Eimer laufen. Zurück im Zimmer kippte er es über dem Bett aus. Es reichte wieder nicht. Als er zum dritten Mal in den Raum lief, musste er unweigerlich anfangen zu husten. Mittlerweile war das ganze Zimmer verraucht. Er bückte sich und lief durch den Rauch zum anderen Ende des Raumes. Dieses Mal konnte er den größten Teil des Feuers löschen. Glut lag auf seinem Bett. Kleine Flammen zündelten auf dem Boden. Der Rauch stand in seinem Zimmer wie eine Wand. Jakob öffnete das Fenster, schnappte nach Luft. Wind und Regen pfiffen hinein. Am Himmel sah er, wie sich das Gewitter näherte.

Und dann realisierte er die Explosion. Er konnte sie gerade so am Horizont erkennen. Vermutlich war sie zehn, vielleicht zwanzig Kilometer weit weg, doch die Wand aus Feuer näherte sich immer weiter, verschlang alles, was ihr im Weg stand, raste mit einer unglaublichen Geschwindigkeit auf ihn zu.

Eilmeldung: Hacker in System von deutschem Atomkraftwerk eingedrungen.

„Oh ja, ich seh‘ die Zukunft pink und wenn du mich fragst, wird alles gut, mein Kind“

Das war das Ende.

Jakob schreckte hoch. Er saß aufrecht in seinem Bett, seine Atmung war flach und schnell. Mit weit aufgerissenen Augen wischte er sich den Handrücken über die Stirn. Sie war schweißnass. Er drehte sich zur Seite und tastete nach seinem Handy. Das nasse T-Shirt klebte an seinem Rücken. Ein Tipp auf den Bildschirm. 25.10.2022. 3:48 Uhr. Jakob stand auf und zog sein nasses Oberteil aus. Wenn das die Zukunft ist, dann will er sie nicht mehr erleben. Nein, das kann nicht die Zukunft sein. Pullover, Hose und Schuhe waren schnell angezogen. Die Tür zog er leise hinter sich zu. Draußen war es lauwarm und schwül.

Kurzgeschichte von Emily Fischer

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